Dr. Dorothée Bauerle-Willert


Wenn du in die Tiefen deines Herzens hineinhorchst und die Höhen des Horizonts ermisst, so wirst du eine einzige Melodie vernehmen, und in diese Melodie stimmen der Stein und der Stern gleichermaßen ein.
Khalil Gibran

Stein und Licht, Architektur und Raum, Konstruktion und Offenheit, Zeit und Vergänglichkeit sind die Elemente, die Johannes Pfeiffer in seinen skulpturalen Ereignissen einsetzt, hervorbringt, erforscht.
Immer geht es dabei darum, das Zusammen- und Gegenspiel dieser Ingredienzien zu erfassen, einen, mitunter überraschenden Dialog zwischen den unterschiedlichen Komponenten zu eröffnen. Zugleich tasten seine Skulpturen die Spanne komplementärer Begriffspaare ab, die für die Kunst seit dem 20. Jahrhundert fundamental geworden sind: Figur/Raum, Volumen/Leere, Schwere/Leichtigkeit, horizontal/vertikal, stabil/labil.
Skulptur ist vielleicht immer zugleich eine Grenze und ein Übergang: Sie vermittelt zwischen Architektur und Malerei, teilt mit der Architektur ihr Sein im Raum, in der plastischen Idealisierung der Materie aber nähert sie sich der Scheinwelt der Malerei. Einerseits „steht die Skulptur mit der Baukunst insofern noch auf der gleichen Stufe, als sie das Sinnliche als solches, das Materielle seiner materiellen räumlichen Form nach gestaltet; sie unterscheidet sich jedoch ebensosehr von der Architektur dadurch, daß sie nicht das Unorganische, als das Andere des Geistes, zu einer von ihm gemachten zweckmäßigen Umgebung in Formen umschafft, die ihren Zweck außerhalb ihrer haben, sondern die Geistigkeit selbst, diese Zweckmäßigkeit und Selbständigkeit für sich, in die dem Geiste und seiner Individualität dem Begriff nach zugehörige leibliche Gestalt hineinstellt und beides, Körper und Geist, als ein und dasselbe Ganze unscheidbar vor die Anschauung bringt. Die Gestalt der Skulptur reißt sich deshalb von der architektonischen Bestimmung, dem Geiste als eine bloß äußere Natur und Umgebung zu dienen los und ist ihrer selbst wegen da. Dieser Abtrennung zum Trotz bleibt aber das Skulpturbild dennoch in wesentlichem Verhältnis zu seiner Umgebung.“ (1)

Pfeiffers Arbeiten aus Ziegelsteinen, die skulpturale und architektonische Eigenschaften vereinen, artikulieren den Unterschied der Gattungen als Mitstreit. Das Verhältnis zwischen dem Schöpferischen und dem Funktionalen, dem Alltäglichen und dem Beunruhigenden wird in den aus Backstein errichteten skulpturalen Mauer-Formen immer neu ponderiert, wagemutig erwogen. In dieser Werkgruppe geht Johannes Pfeiffer von der additiven Grundform des Ziegelsteins aus, den er als Modul einsetzt und in komplexe, fast geheimnisvolle Werke überführt, die neben der rationalen Struktur durch ihr Placement, ihre Spannung und Einspannung gleichsam ihre metaphysischen Schatten offenbaren.
Das Modul als Grundform hat eine lange Geschichte, besonders im Bereich der Architektur. Und so ist der Einsatz dieses Werkzeuges stringent, ist es doch das Verhältnis zum Raum, zur Umgebung, zur Architektur, das für den Künstler von Anfang an ein wesentlicher Impuls seiner ortsbezogenen Installationen wurde. Dabei werden die Möglichkeiten der Variation und Modulation, von Differenz und Wiederholung der einfachen Bausteine ausgelotet. In jeder Wiederholung verschränken, verschieben, verändern und mobilisieren sich die materiellen und imaginären Mitspieler. Wie in der Architektur werden in diesen Interventionen Verhältnisse gestaltet, reflektiert, ins Werk gesetzt. Die Objekte nehmen dann ganz selbstverständlich Architektonisches in sich auf – strahlen es aus: Sie bilden differenzierte Räume, Raum-Fragmente im wirklichen Raum, geometrisch einsichtig, vielfältig offen in der Komplexität der Wahrnehmung. Innen und Außen, Fläche und Volumen, Zeichen und skulpturale Realität befinden sich in eigenwilliger Balance, setzen vordergründige Gegensätze außer Kraft. Der gegebene und der ideelle Raum werden in der Erfahrung der Gebilde zu einem äußerst komplexen Gefüge, das die Doppelbewegung der räumlichen Erfahrung immer mitschwingen lässt. Angestiftet vom Barock geht es hier in gewisser Weise um das Eindringen des Raumes in den Kern der Plastik und zugleich das Eindringen der Plastik in den Kern des Raumes. (2) Spiegelung und Theatralisierung, das spannende Werden und die Verspannung dieses Werdens mit dem Raum sind ebenfalls Erfindungen des Barocks, die Pfeiffer ganz neu ins Werk setzt: Damals wie heute Ausdruck für ein fragil-systematisches Denken, für ein Krisenbewusstsein angesichts des illusionären Charakters jedweder Ordnung.
Zugleich spielt in der Verwendung des Ziegelsteins die Ikonographie des Materials selbst mit, dessen Bedeutungszuweisungen gerade im Fall des Mauerziegels widersprüchlich und ambivalent sind. Obwohl eines der ältesten vorgefertigten Bauelemente, befeuerte sein Einsatz für Gebäude und Denkmäler auch die Auseinandersetzung zwischen Natürlichem und Künstlichem, zwischen Tradition und Erneuerung. Gegenüber dem edlen Marmor konnten die industriell erzeugten Steine geradezu den Beleg für die Wurzel- und Seelenlosigkeit der Moderne liefern, andererseits konnte in der Diskussion um moderne und traditionelle Baumaterialien der Backstein aber auch mit dem Althergebrachten, an regionale Überlieferungen Anknüpfendes identifiziert werden. Den Topos der sprechenden Steine (saxa loquuntur) aufgreifend, redeten Backsteine angeblich plattdeutsch, während der glatte Klinker verfemt wurde. (3)

Aber auch erratische Steine oder Findlinge sind mit wechselnden Bedeutungszuschreibungen verknüpft, die mit ihrer vor- und frühgeschichtlichen Verwendung zusammenhängen, also mit den Hünenbetten oder Hünengräbern und mit der späteren Rezeption dieser Sepulkralkultur.
Auch in dieses Material gravieren sich politische und kulturelle Sinngebungen ein, die durch ihre geheimnisvolle Aura, die im Stein gespeicherte Vergangenheit Vorstellungen von „Natur“ und „Zeit“ jeweils neu formulieren können. (4)

Diese so unterschiedlichen Materialzuschreibungen alliieren sich in den Installationen zu vielsichtigen, irritierenden Raumbildern, wenn sich neben den schiefen Turm von Pisa Pfeiffers waghalsige Soluzione lirica stellt, wenn in Abbondanza Marmorkiesel aus Metallschalen quellen, wenn ein überdimensionierter Schlitten einen Findling bergauf schleppen will, wie in der Arbeit Sulla Via del Ritorno. Ein Rückweg in eine andere Zeit, ein Still wie aus einer anderen Zeit.
Fast im Paradox wird in Pfeiffers Skulpturen gerade die Materialität zu einer wesentliche Ermöglichungs- und Wirkungsbedingung von Bildlichkeit überhaupt. Bildlichkeit und Materialität sind immer schon ursprünglich und vielfältig miteinander verschränkt. Ihr Zusammenhang ist komplex, ein Vexierspiel vom einen zum anderen, wobei sich keines der beiden Elemente isolieren oder in der Wahrnehmung abspalten ließe. Zugleich kommt dem Material, der Materialität eine beunruhigende Eigenmacht zu. Sie schießt in den Bildprozess und eben auch in das Bild als etwas letztlich Unkalkulierbares ein. Nie ist das Material der Kunst zur Gänze verfügbar oder zähmbar. Und genau das bedingt dann auch eine nicht zu tilgende oder regulierbare Dynamik des Bildes, das sich so nie zu einer stabilen Einheit verfestigen kann – oder will. Materialität garantiert paradoxerweise eben nicht die Beständigkeit des Bildes, sie ist weniger das solide Fundament, sondern stellt eher Finalität und Abschließbarkeit in Frage: In einer Volte macht gerade das Material die Bildlichkeit prekär. (5)

Pfeiffers Werkgruppen finden immer neue Anschlüsse zwischen Material und Bild. Hier kann man nicht (mehr) von der Materialität des Bildes absehen, um etwas zu sehen.
Und zugleich haben wir es bei Johannes Pfeiffer mit einem imaginären Raum zu tun, in dem niemand im Besitz der Wahrheit ist – diese Inszenierungen bringen Sein und Schein in ein unwägbares Verhältnis, stellen vordergründige Gewissheiten in Frage. Es geht hier nicht um das Entweder - Oder von Materialität und Transzendenz, sondern eher um ein Entweder – Und.
Das Zusammenfinden unterschiedlicher Gegebenheiten des Faktischen zu einem Ganzen, das dieses Ganze hin zur Bildlichkeit übersteigt, die zugleich haptisch als auch optisch wirksam wird und den Tast-, See- und Gedankensinn gleichermaßen fordert, realisiert sich in diesen Arbeiten als dreidimensionale Bildlichkeit, als ein Theater aus Stein, Theater aus Schein, in dem wir als Betrachter ebenso unsere Ein- und Auftritte haben wie das Material, das Licht, das Fluidum, die Zeit.
Widersprüche und Gemeinsamkeiten, Gegensätze und Übereinstimmungen der Materialien, Backstein und Nylonschnur, Gitter und Farbe, Holz und Findling, Kiesel und Schale, Findung und Erfindung, Bauwerk und Kunstwerk schließen sich jeweils zu einem komplexen Bild zusammen, in dem sie gleichwohl nicht aufgelöst werden, sondern aufgehoben in Erscheinung treten.
Pfeiffer geht es dabei auch um die Visualisierung und Untersuchung der Eigenschaften des jeweils verwendeten Materials als einer der thematischen Konstanten der zeitgenössischen Skulptur. Jede Form ist eingeordnet in ihre Materialität, ergibt sich (zunächst) ganz aus dem Material und seinen signifikanten Eigenschaften. Die Spezifik und Einheit dieser künstlerischen Gestalt wird dann jedoch mit der Dynamik der sich transzendierenden Form verbunden – mit einer assoziativen, die Erfahrungen des Künstlers kristallisierenden Inhaltlichkeit. Diese Raumbilder entfalten parallel zu ihrer materiellen Gegebenheit existentielle Grenzerfahrungen. Momente der Unsicherheit, der Krisis, der Unruhe, aber auch der Ausgleich polarer Kräfte werden in den skulpturalen Anordnungen im Wortsinne begreifbar. Gerade in ihrer Konstruktion und durch sie hindurch beleuchten die Arbeiten immer auch die Verletzlichkeit von Ordnungen und zugleich die Möglichkeit der Veränderung und Verwandlung von Hierarchien und Systemen. Pfeiffers Werkgruppen, ihre Entwicklung und Gruppierung vereint Prozess und Resultat so, dass die Skulptur zugleich das Verhältnis zu ihrer Umgebung als einem lebendig gefüllten Zeit-Raum und ihrer Geschichte reflektiert und offenhält.
Die prekäre Balance, die (augentäuschende) Labilität, der Übergang von plastischem Körper zur in den Raum gezeichneten Linie zeigt, dass sich in gewisser Weise aller Raum aus Spannungsbezügen formt. Unser In-der-Welt-Sein ist ein Bezugsgeflecht, die Spannungen sind auszutragen und auszuhalten. Pfeiffers Konstellationen, die Kräfteverhältnisse, die zur Anschauung kommen und auch die Situationen des Überdehnens und Zusammenbrechens sind die Bedingungen unserer täglichen fragilen Situationen.
Auch das Licht, das die Leere bezeichnet, artikuliert, ist ein Raumbildner, der Raumbildner par excellence: „Licht ist ferner ein Medium, Medium der Wahrnehmung (noch bevor es zum Medium der Darstellung wird). Darum besteht der Ausdruck Lichtraum zu Recht. Er will sagen, dass erst im Licht der Raum zu tagen beginnt. Raum ist zuerst Lichtung. In Lichträumen wohnen wir Prozessen der Raumwerdung bei. Das Tagen des Raumes ist dabei ein Tagen, das im Betrachter selbst stattfindet: die Lichtung ist ein Vorgang“. (6) Das Licht leitet die Produktion einer neuen Wahrnehmung, ihre Verzeitlichung und gleichzeitig ihre Verräumlichung zum Ort. Doch zu jedem Licht gehört ein Dunkel. In der Tradition bilden Licht und Dunkel die „absoluten Metaphern“ des Werdens und Vergehens, von Geburt und Tod, Erlösung und Untergang, Metaphern des in sich antagonistischen Lebens. (7)

Diese raumbildende Energie des Lichts wird in Pfeiffers Lichtinstallationen hervorgebracht und illuminiert. Die mit Schwarzlicht-Lampen beleuchteten Life Boats, eine serielle Anordnung an den Docks entlang der Moldau in Prag visualisiert das Fließen der Zeit, in dem Anfang und Ende sich begegnen.
Das Licht, die Dinge sind in stetem Übergang und diese Übergänge werden erlebbar, sichtbar, nachvollziehbar als wechselnde Materialisierungen. Zeit ist nur wirklich im Zwischenraum: nämlich als Prozess der Verdeckung und Anziehung, der Materialisierung und Dematerialisierung. Was eben noch alle Sinne beschäftigt hat, verschwindet, was noch nicht sichtbar ist, tritt im Licht hervor. Dieser wechselseitige Prozess bildet Zeit als Strom unserer Erfahrungen und Handlungen. Midsummer Night’s Pentagram eröffnet einen unauflöslichen Dialog zwischen haptischem Ding und seinem Schatten, zwischen Fläche und Raum, zwischen unfixierbarer Lichtzeichnung, in stetiger Veränderung und seiner objektiven Verankerung in den vorhandenen stählernen Toren. Aber natürlich sind auch die Nylonschnüre, die oft als gespannte Linienbündel den Objekten zugleich opponieren als diese auch halten, flirrende Fänger des Lichts, die uns in einen schwingenden, numinosen Raum Zwischen Himmel und Erde versetzen. Und es ist diese Doppelheit, die auch in den Aufgriff des Pentagramms hineinspielt, die Bannzeichen, magisches Symbol und mathematische Gesetzmäßigkeit, eine transparente Regel vereint. Midsummer Night’s Pentagram und Pentagramme en bleu nuit setzen als Zeichnungen im Raum die Bipolarität des Zeichens um, als Schwellenerfahrung zwischen Zeit und Raum.
Johannes Pfeiffers Environments sind Passagen, sie installieren jeweils eine Bühne, auf der sich der Akt des künstlerischen Tuns und die Vorstellungskraft des Betrachters entfalten können. Es geht auch um das Erspielen eines körperlichen Handlungsraum, das das Gemachte und das Betrachtete miteinander verbindet.
Immer entsteht eine bewegte, bewegliche, bewegenden Synthese zwischen Objekt und Raum, die Grenzüberschreitungen zwischen den Disziplinen reflektieren und ermöglichen. Genau so wichtig wie die skulpturale Form ist der Betrachter, seine Bewegungen im Raum, seine aisthetische Wahrnehmungserfahrung, die in ihrem imaginativen Vermögen auch Abwesendes zur Vorstellung bringen kann: Das Objekt ist die ausstrahlende Instanz, aber die Situation gehört dem Betrachter, es ist seine Situation. (8)



(1) Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik II, Werke in 20 Bänden, Bd. 14, Frankfurt am Main 1970, S. 352
(2) Vgl. Paul Hofer, Der barocke Raum in der Plastik, in: Die Kunstformen des Barock, hrsg. von Rudolf Stamm, München 1956, S. 144.
(3) Vgl. Christian Fuhrmeister, Materialikonographie von Klinker und künstlichem Stein, in: Historische Architekturoberflächen: Kalk Putz Farbe. (ICOMOS. Hefte des Deutschen Nationalkomitees Band XXXIX), hrsg. von Jürgen Pursche, München 2003, S. 170
(4) Vgl. Christian Fuhrmeister, Erratische Steine: Die (politische) Bedeutung von Findlingen in den letzten 200 Jahren, in: Jahrbuch der Männer vom Morgenstern – Heimatbund an Elb- und Wesermündung, Bd. 91/2012, Bremerhaven 2013, S. 19
(5) Vgl. dazu: Vgl. Michael Fried, Kunst und Objekthaftigkeit in: Minimal Art. Eine kritische Retrospektive, Dresden/Basel 1995, hrsg. von Gregor Stemmrich, S. 344
(6) Hartmut Böhme, Das Licht als Medium der Kunst, in: Humboldt-Universität Vorträge, Heft 66, hrsg. von der Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin 1996, S. 4f
(7) Vgl.dazu Walter Hin z, Ahura Mazda und Ahriman. Der Dualismus von Licht und Finsternis im Zaroastrismus. in: M.Svilar (Hg.): „Und es ward Licht“. Zur Kulturgeschichte des Lichts. Bern u. Frankfurt/M. 1983, S. 11-32.
(8) Vgl. Michael Fried, Kunst und Objekthaftigkeit in: Minimal Art. Eine kritische Retrospektive, Dresden/Basel 1995, hrsg. von Gregor Stemmrich, S. 344